Nachmittags um 3, neben der Straße
Januar 2007
Sankt Moritz im Engadin, an der örtlichen Bobbahn, ein Rennen wird veranstaltet. Wenn sich die Leute mit dem Kopf zuerst in eine Eisbahn stürzen, mit dem Bauch auf einem Schlitten liegen und die Beine hinten haben, dann nennt sich das Gerät Skeleton. Auf einmal laufen überall wichtige Personen herum, Trainer und Wettkämpfer. Wir sehen Leute mit Legitimationskarten an der Brust und sehen Klamotten der unterschiedlichen Nationalteams. An einigen Dächern befinden sich fest montierte Kameras. Ich bin mir nicht ganz sicher mit den Kameras, aber ich habe das Gefühl, nachdem ich die ersten beiden Geräte gesehen habe.
Wir selbst logieren seit ein paar Tagen in einer etwas bescheideneren „Sozialwohnung“ in einem Hochhaus im fünften Stock auf der anderen Seite des Sees und nicht im Palasthotel, das jeder aus den James-Bond-Filmen kennt und das wahrscheinlich auch sehr komfortabel und entgegenkommend ist. Diese Sozialwohnungen werden hier auch angeboten und die Pisten bleiben gleich, unabhängig davon, welche Summen man für die Übernachtungen auf den Tisch legt oder legen kann.
Wir haben gar kein Problem, an die Eisbahn zu gelangen, wir beide, meine Freundin und ich.
Wir gehen – aus logischen Gründen – möglichst unauffällig den Weg zur Bahn entlang und manövrieren uns vorsichtig an dem Häuschen mit den Eintrittskarten vorbei. Wer weiß schon, was eine Karte für ein Weltcuprennen alles kosten kann. Dann stehen wir, ohne uns etwas anhören zu müssen, ein paar Meter neben dem Startbereich. Direkt neben dem Start und kucken auf die Bahn, einfach so. Man kann uns durchaus als Touristen erkennen, denn wir haben Langlaufskier in der Hand – logisch, ich und Langlaufski. Aber es bleibt so: Niemand stört sich an uns.
Wir halten uns ein paar Minuten lang im Eingangsbereich auf und versuchen die Situation zu nehmen, wie sie sich anbietet und sehen auch, was passiert. Die ersten Schlitten werden auf die Bahn gelegt und und die Athleten starten das Anschieben und Losrennen. Sie rufen: „Hophophop Aga Aga“und hauen ihre Schuhe mit den Spikes ins Eis. Dies ist also der Teil der Fahrt, der entscheidend für den Rennerfolg ist. Dann geschieht irgendwie nicht mehr viel, und wir überlegen uns, was wir machen sollen. Sollen wir uns vielleicht den Rest der Bahn ansehen? So etwas kann man doch ausnutzen, es scheint ja niemanden zu stören, heute jedenfalls nicht. Die Sache entwickelt sich zu einem abenteuerlichen Vorhaben, nun, warum auch nicht.
Aber dann: Einen derartigen Weg haben wir noch nie gesehen. Ist der überhaupt freigegeben? Die Bahn ist bereits eisig, aber der Besichtigungsweg, der an der Bahn entlang führt, sieht bei näherer Betrachtung aus wie ein gefrorener Wasserfall. Na gut, das bessert sich vielleicht noch. Wir gehen wie die Pinguine, sorgsam einen Fuß neben den anderen setzend, los. Meine Begleiterin schlägt in der ersten Minute gleich zweimal zu Boden, und lacht sich fast tot dabei – wohl mehr den eigenen Tod sehend als lachend – obwohl sie langsam und vorsichtig den Abstieg begonnen hat. Wir ändern also unsere Strategie komplett und gehen wie Pinguine weiter, sorgsam einen Fuß neben den anderen setzend – man muss sowas wahrscheinlich üben im hochalpinen Gelände. Wir halten uns an unseren Stöcken fest, hängen an ihnen wie an Griffen, die stabil sein könnten.
Keiner aus der Organisation hat nachgedacht und sich entschlossen, Split oder irgendwas vergleichbares auf den Boden streuen. Ist das jetzt Absicht oder was? Gibt es Sorgen vor Körnern oder Steinchen, die dann in die Bahn gelangen könnten? Wenn hier einer hinfällt – oh Mann, was hält ihn dann noch davon ab, wie eine dumme, fette Robbe in die Eisbahn hinein zu rutschen? Eine Kollision mit dem nächsten Schlitten wäre die Folge eines gar nicht so unwahrscheinlichen Sturzes. Wir bemühen uns, die Situation nicht zu unterschätzen. Diesen Weg hat außer uns beiden anscheinend noch kaum ein Fußgänger benutzt. Na sowas.
Wir halten an einigen Stellen an: Ein Geräusch kommt, ein schwarzer Schatten stößt vorbei und verschwindet auf der anderen Seite wieder, dann eine Minute nichts, dann das Gleiche. Man kann irgendwie keine Unterschiede feststellen. Auf jeden Fall wissen wir nun, dass auf diesem Planeten Italienerinnen existierten, die 1,90 Meter lang sind und wirklich beneidenswerte Gesäßmuskel besitzen.
Wir gehen wie gesagt pinguinmäßig weiter und als wir unten ankommen, sind wir heilfroh, dass wir uns nichts gebrochen oder abgeschlagen haben. Die Hemden sind nass geschwitzt.
Fernsehkameras
Schau mal einer an. Es gibt keine gefahrlose Möglichkeit zur Anlage hin zu gehen. Der Wettkampf in der Eisbahn wird für die Welt und ihre Fernseher veranstaltet und vor Ort interessiert sich keiner dafür, denn sonst gäbe es diese Zugänge. Ein Sport, der nur für die Fernsehkameras gemacht wird. Das genaue Gegenteil zum Buckelpistenfahren, welches im Fernsehen ja nie übertragen wird und auch nicht übertragen werden muss.
Der eine Sport ist so veranlagt, dass er Kameras benötigt, um überhaupt wahrgenommen zu werden, der andere so, dass man keinen Titel gewinnen muss, um etwas darzustellen – denke ich mir, parteiisch, wie ich nun mal bin.
Man kann leicht ausrutschen, auf dem Weg um die Bobbahn von St. Moritz.
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