Die frühen Tage.
Die frühen 1980-er
In Gaschurn hatte das Licht an sonnigen Tagen irgendwie eine andere Farbe. Wenn man zum Himmel schaute, waren meist zwei kugelrunde Regenbogen zu sehen – nicht einer, sondern zwei. Das musste etwas mit den fliegenden Schneekristallen zu tun haben, keiner konnte es genau erklären.
Um die Buckelpiste am NovaHang herum war ein Autobahnverkehr installiert, wie man ihn häufig kennt, mit einer schwach abfallenden blauen Piste. Diese Piste hat weiter unten total genervt, weil sie viel zu eng war. Da sind Pfeiffen herumgefahren, die total ausgerastet sind, nur weil man gerade mal in zwei Metern Entfernung an ihrem wackeligen Standort entlang fuhr. Aber irgendwie musste man ja vorbei kommen, sonst hätte man sich ja die Beine wund gestanden und die Tage waren eh zu kurz. Am Schlepper links ging es, aber im Sessel haste jedes mal bis zum Greisenalter warten müssen, eher Du dich in den Aufstieg setzen durftest. Ok, als Halbwüchsiger konnte man relativ gefahrlos drängeln, aber irgendwann entwickelte man doch dann ein Gefühl für zivilisatorisches Verhalten. Nur in den Buckeln war genug Platz für interessante Ideen, weil da ja kaum einer rein fuhr. Meist waren schon einige Personen drinnen, aber bei weitem nicht so viele wie außen rum.
Die Leute waren bei der Sache. Zugegeben, es waren nicht nur Skifahrer dabei, die mit ausgeklügeltem Kanteneinsatz fuhren. Aber alle vernahmen einen Impuls in sich regen, der sich wand und streckte und der nach Handlungsspielraum verlangte. Sie versuchten auf Arten und Weisen in Tal zu fahren, die eigentlich, logisch betrachtet, nicht in ihrem Portflio lagen. Wenn ich mich unter die Versammelten mischte, konnte ich immer wieder den Satz hören: „Leute, ich werde nächsten Sommer zwei Stunden lang Sport machen, täglich – und dann komme ich zurück, und dann ist es vorbei mit lustig. Jedenfalls für Euch.“ Da konnte man fast Ängste bekommen. Diese Sätzen sprachen Männer aus, die Bäuche hatten, Frauen mit verschwenderischen Hüftbereichen, und man hatte nicht den Eindruck, dass man sich wegen dieser Aussagen Sorgen machen müsste. Aber es waren unverrückbare Sätze.
Jeder testete und übte, fiel hin, stand wieder auf und probierte weiter, bis ihn nichts mehr einfiel, bis die Sonne unterging und ein abendlicher Treppenaufgang zur Herausforderung wurde. Man muss hinzufügen, dass diese Leute angesichts der Szenen, die wie ein Eimer Eiswasser über ihnen einschlugen, kaum die Wahl hatten, sich zu enthalten. Es wäre eine Wahl gegen das Wesentliche gewesen. Es wäre eine Entscheidung gegen die Begegnung der dritten Art gewesen.
Man kann das vergleichen: Wenn Dir mal zufälligerweise ein Ufo vor die Füße fällt, dann solltest Du das auch akzeptieren und ab dann nicht mehr dagegen ankämpfen. Hat ja eh keinen Sinn. (Und nein – mir ist noch kein Fluggerät vor die Füße gefallen.)
Ich habe festgestellt, dass man gar nicht mal so kräftig sein muss fürs Buckelpistenfahren. Wichtig ist die Vorgehensweise. Man soll so vorgehen, dass ein Endergebnis eintritt. Überlegt doch mal: Einen Hundert-Meter–Lauf bekommt jeder irgendwie hin. Also ist jeder bei Bedarf flott. Einigermaßen. Es kommt auf Deine Methode an. In den Buckeln musst Du einfach nur wissen, wie Du zu „strampeln“ hast. Wenn Du es autodidaktisch herausfinden möchtest, dauert es etwas länger, bis ein brauchbares Ergebnis kommt. Wir waren damals eigentlich alle Autodidakten.
Jeder kochte sein eigenes Süppchen. Mir sagte mal einer freundschaftlich und hielt mir den Arm um die Schulter, haha, er sei der Experte und ich, der Junior, solle doch mal informiert werden, nur die Underground-Musik könne einem die rechte Einstellung verleihen, die man brauche für die notwendige Motivation. Er sagte mir dann nochmals zur Eigenbestätigung: „Andergraund“, steckte seine Hörer ins Ohr und das Gespräch war für ihn beendet. Dann zeigte er mir seine Vorgehensweise, aber überzeugender, als die anderen fuhr er nicht, fand ich. Trotz Knöpfen im Ohr.
Die Skilängen variierten ungefähr ab einem Maß von 120 Zentimetern – die Geräte nannten sich Balettski und die gab es damals – verwendet wurden allerdings meist die üblichen Fabrikate, also von vorne bis hinten immerhin ganze 205 cm. So war das damals. Manche Ski waren gestaucht oder anderweitig mitgenommen, aber das wurde toleriert. Hauptsache, man konnte noch einen Tag dabei bleiben. Ich hatte etwas preisgünstigere Ski, und dachte mir boah-eh, wenn ich solide Ski hätte, dann würde es abgehen. Aber das stimmte ja nicht. Die Ski sind nur ein untergeordnetes Produktionsmittel bei diesem Spektakel. Sie sollen nur nicht gleich nach zwei Tagen brechen.
Einer hatte mal eine Mütze mit einer faustgroßen Bommel aufgesetzt und fuhr damit durch die Gegend. Wir nannten ihn den „Hasen“. Ich fand das interessant und habe mir selbst eine gemacht. Die Herstellung einer derartigen Bommel ist nicht schwierig: man muss einfach einen Wollfaden nehmen, ihn dann fünfzigmal um die Hand wickeln, die Hand raus ziehen, das entstandene Knäuel in der Mitte zusammenbinden und die dadurch entstandenen Schlaufen aufschneiden. Diesen Bommel kann man auf jede Stoffkappe drauf nähen. Nach diesem Muster habe ich mir dann die Mütze angefertigt. Sie liegt bis in die Gegenwart in meiner Schublade und sieht noch so aus, als könnte man sie aktivieren. Aber das geht ja nicht. Heute fährt man mit Helmen.
Die Overalls die sie trugen, hatten das Aussehen von Jacken, wie sie Motorradfahrer anhatten – nur nicht in schwarz, sondern in farbiger Ausführung. Ein Overall hatte einen Adler am Rücken eingestickt, also einen Vogel, der die Federn spreizte. Später wurde mir klar: Genau, wie die Federn eines Vogels sehen die Risse in einer Glastür aus, wenn man sie mit begründeter Willenskraft eintritt. Solche Adler auf den Hinterseiten von Jacken erinnern uns heute an Männer, die auf amerikanischen Motorrädern sitzen. Damals fehlten – mir jedenfalls noch – diese Assoziationen.
Es gibt Sachen, die will man gar nicht wissen. Man muss nicht alle Arten von Unsinn kennen. Aus welchem Grund sollten Erwachsene herumlaufen wie Berggorillas und sich vorderhand darum kümmern, anderen Menschen beim Blickkontakt Furcht einzuflößen?
Möglicherweise braucht jeder Mensch einfach eine Möglichkeit, um sich auszudrücken, sonst passieren die idiotischsten Sachen mit ihm. Wenn Du nicht Buckelpiste fahren darfst, benötigst Du eine andere Art, um ordentlich auf den Tisch zu schlagen. Es gibt in unserer Welt ja nicht wenige Gründe, die vernünftige Menschen zur Kernschmelze bringen, zur geistigen.
Es gab zwei Hauptgruppen am Hang. Die einen standen eigentlich nur rum, regungslos – Ihr wisst ja mittlerweile Bescheid – und haben dunkle und leere Löcher in die Luft geglotzt – wohl um über die anstehenden Fahrten zu meditieren und zu denken, dass die Welt nur im Modus eines einsamen Wolfes ohne Begleitung zu ertragen sei und dass Buckelpistenfahrer sich keine schwarzen Lederjacken kaufen sollten, weil diese zu schwer sind und nicht gegen die Kälte taugten. Standen rum, um dann sturzartig die Kräfte des noch jungen Buckelpistenfahrens zu entfesseln. Was sie taten, hatte niemand je gesehen. Und die andere Gruppe? Naja, die war aufgescheucht wie ein Taubenschlag von der ersten, reagierte ratlos, tappte ohne Orientierung am Hang entlang, fand das alles sehr, sehr spannend, ohne auch nur annähernd mitmachen zu können. Insgesamt kamen fünfzig bis hundert Teilnehmer an den Hang.
Dann gab es die Momente mit einem „Gong“. Man merkte, dass in der Nähe ein Gong angeschlagen wurde, und musste sich hinsetzen, den Gong auf sich wirken lassen, ohne besondere Aufmerksamkeit auf Gesichtsmimik und Körperhaltung legen zu können und mit gleichzeitigem Verlust der Aufmerksamkeit dafür, dass die Zeit weiter lief. Man sah es in den leichteren Abschnitten des Hanges. Irgendwelche Leute aus der Menge fuhren nicht mehr Buckelpiste, nein, sie tanzten in den Hügeln, machten Faxen, fuhren mal auf dem linken Bein, kreuzten die Ski schräg in der Luft – wohlgemerkt in dem Gelände einer Buckelpiste – und fanden die verdrehtesten Wege durchs Gewimmel. Habt Ihr schon mal Eichhörnchen in Park gesehen? Könnt Ihr euch vorstellen, wie diese Tiere Ski fahren würden? So in etwa konnte man es am Nova-Hang beobachten. In dem Augenblick rückten, wie gesagt, die anderen Sachen in den Hintergrund und man brauchte definitiv einen zweiten Gong, um wieder in den Tag zurück zu kehren und sich zu überlegen, was man als nächstes tun wollte. Es folgte ein Blick in die Runde: Hatte jemand den Aussetzer, den man gerade gehabt hatte, mitbekommen?
Als Betreiber von Skigebieten sollte man solchen Hunden – jedenfalls den überzeugendsten Exemplaren unter ihnen – eine Freikarte für die ganze Saison spendieren – und hätte noch einen Vorteil davon. Wo Buckelpiste gezeigt wird, da kommen die Zuschauer zurück. Mehr als 5 Super-Exemplare waren es eh selten an einem Tag.
Das ist übrigens das Endziel jeder geplanten Entwicklung. Das Endziel ist, dass wir am Schluss sämtliches „Zeug“, sämtliche Produktionsmittel, alles was wir für die Realisierung benötigen, beiseite legen und nicht mehr dran denken. Man braucht ja schon einige Zutaten für die Herstellung des Vergnügens „Gummihund“. Zunächst braucht man eine Welt, die das Szenario für diesen Sport bereit stellt – was heute durch den Klimawandel in Frage gestellt wird. Dann braucht man einen Körper, der derartiges möglich macht und man braucht ein Interesse – auch hier fehlen derzeit die Impulse. Wenn eine Sache dann gut läuft, denken die Beteiligten nicht an den Unterbau. Sie vergessen das Umfeld für die Dauer von ungefähr 30 Sekunden. Ist das verständlich ausgedrückt?
Der Hang war also sehr lebendig in diesen frühen Tagen – im letzten Jahrhundert, als die Winter noch funktionierten.