Mittags, um halb zwei, an der Oberkante

Schweiz 1988

Kürzlich traf ich Andy, einen Freund aus unserer alten Trainigsgruppe wieder. Solider Typ, solider Sportler. Wir hatten uns schon lange nicht mehr gesehen – seit ein paar Ewigkeiten, wie wir beide feststellten. Er sah immer noch gleich aus, die gleiche Fröhlichkeit, identische Frisur, die gleichen Körperbewegungen – und er liebte offensichtlich nach wie vor Statements. So sagte er gleich zu mir: „Na? Immer noch so unkontrolliert drauf?“

Hallo, wie bitte? Was sollte diese Frage? Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals verletzt zu haben. Ich habe auch keine Leute umgefahren und bin selten hingefallen. Vermutlich hat er mich auf meine Recoveries angesprochen. Eine Recovery ist eine Aktion, bei der du fast hinfällst, aber eben nur fast und nicht ganz. Sowas kann ganz cool aussehen und sowas ist dann auch tolerierbar.

Ich habe den Beobachter der Dinge dann nicht weiter hinterfragt, sondern in den Arm genommen und gemeint: „Komm, wir haben einiges zu erzählen.“ Ich freute mich wie ein verloren geglaubter Blutsverwandter, ihn endlich mal wieder sehen zu können. Man musste ihm einfach vieles verzeihen, denn bei genauerem Hinsehen war er doch tiptop, im inneren Kern, sozusagen. Wir unterhielten uns dann über alles Mögliche und dann stellte sich heraus, dass er mir eine Sache auspacken wollte, die er kürzlich erlebt hatte. Die Geschichte war so typisch, dass ich sie bis heute in Erinnerung habe. Ich war also nicht dabei, als das Kuriosum geschah – aber jeder, der den Kollegen kennt, wird sich leicht vorstellen können, was damals passiert sein musste. Habt Ihr Interesse, das zu hören? Dann fange ich mal an. Wir sind ja eh schon dabei.

Es begann folgendermaßen: Andy stand in den Schweizer Alpen an der Oberkante einer Piste. Dort war – natürlich – eine Buckelpiste und da musste man irgendwie runter. Viele Leute trauten sich da nicht hinein. Dieser Abschnitt war den Leuten vorbehalten, die mit stärkeren Herausforderungen auf Skiern umgehen konnten. Mein Kumpel verfügte über diese Fähigkeiten, schließlich war er seit seiner Kindheit auf Skiern gestanden.  Aus ihm war mit der Zeit ein echter Buckelpisten-Experte geworden, da konnte ich ihm zustimmen.

Er strich sich – wie häufiger vor seinen Fahrten – mit der Hand übers Kinn.  Wenn ihm kein Stolperer passieren würde, konnte er mit sauberen Ausgleichsschwüngen und einem stabilen Oberkörper diese Piste herunter fahren. Mit geübtem Blick suchte er den Hang ab und überlegte: wo befand sich die Reihe von Buckeln, die er nehmen konnte, um ordnungsgemäß einen Bogen an den anderen zu setzen? Buckelpisten waren sein Spezialgebiet, da musste ihm erst mal einer kommen, hehe. Standen irgendwo interessante Fräuleins herum? Gleich würde er die Würfel fallen lassen.

Als er noch dastand, um durchzuatmen, hielt plötzlich eine andere Gestalt neben ihm an. Schau an, dieser Typ war nicht unbekannt, er war meinem Kumpel bereits zuvor aufgefallen. So ein Zufall aber auch. Dass der soeben Angekommene sein Metier verstand, hatte man bereits sehen können, vom Lift aus, in den Stunden zuvor.

In diesem Moment fand also eine Begegnung statt. Mein Kumpel wollte etwas beisteuern, logischerweise. Er dachte, da ließe sich ein Gespräch beginnen. Ein Austausch von Insiderbemerkungen – oder ein Lob fürs Buckelpistenfahren und jammern über die blöde Kondition, die man dafür antrainieren müsse. Der andere sagte nichts – was aber nicht ungewöhnlich war. Buckelpistenfahrer sind häufig stumm. Da muss man sich schon ein bisschen mehr anstrengen, um eine Unterhaltung anzuwerfen.

Bevor ich jetzt fortfahre, möchte ich noch folgendes klar machen: Wir waren damals Slalom- und Riesentorlaufrennläufer – allerdings nicht besonders erfolgreiche – und haben permanent irgendwelche Sprüche geklopft. Wir sagten zum Beispiel, bevor wir uns ins Rennen gingen: „Sieg oder Akja“. Wir wollten nicht vorsichtig durch den Torlauf fahren, um einen Platz im Mittelfeld zu erreichen – sondern es ging immer vollgas. Entweder wir fänden den schnellsten und riskantesten Weg ins Ziel, oder wir würden rausfallen und zum Rettungssanitäter gebracht. Die Realität bestand meist weder im Sieg noch im „Akja“, sondern in ein paar hässlichen Sekunden Abstand zum Führenden.

Es gab noch einen zweiten Spruch, den wir auch häufig verwendeten. Und dieser etwas ausgetretene Satz passte nun genau zur Situation. Wir hatten ihn so häufig benutzt, so dass er sich für uns abgenutzt hatte. Mein Kumpel überlegte noch einen Moment, ob er ihn herauslassen sollte. Sollte er besser ruhig bleiben? Seine Lippen nahmen ihm aber, just in diesem Augenblick – wie schon in vielen anderen Momenten zuvor – die Entscheidung ab:

„Schuss – oder A….loch!“

Mein Kumpel sprach also diesen harten Satz vor einem Menschen aus, der nicht darauf vorbereitet war. Dann zwinkerte er schnell mit den Augen. Er wollte keinen angehenden Bekannten beleidigen.

Man sah nicht, ob der angehende Bekannte verstanden hatte. Er stand da und schaute weiter auf die Piste. Man hätte meinen können, er habe nichts gehört gehabt – aber der Satz war laut genug ausgesprochen worden.  Jetzt konnte man sich den Typen anschauen. Er war unauffällig gekleidet, seine Hose und Pulli hielten sich in braunen Farben. Schon seltsam, was für Typen vor einem auftauchten. Mehrere Atemzüge vergingen. Der Wind blies vom Hang her über die rot werdenden Backen meines Kumpels, aber es passierte nichts. Hoffentlich würde die Situation bald ein Ende finden – bevor hier noch andere Bemerkungen fielen.

Aber dann: Der angehende Bekannte drückte die Stöcken in den Schnee und schob sich in den Hang. Er machte das kommentarlos. Und was passierte dann? Nun, der verständige Zuhörer benötigt nun keine Denkhilfe, um die sich nun abzeichnende Konstellation zu imaginieren und vorherzusagen: Ihr ahnt wahrscheinlich schon, dass der Typ nicht irgendwelche traditionellen und gängigen Schwünge startete, wie unser Andy erwartet hatte.

Nein. Der Kerl fuhr los. Genau. Er fuhr zentral in die Buckelpiste hinein und ohne Furcht vor der Erdbeschleunigung tat er das. Nach 100 Metern stand ein Liftpfeiler neben der Piste, auch der ohne Einfluss. Der Kerl fuhr tatsächlich in der undurchführbarsten Weise talwärts. So war das. Und so wurde mir das berichtet von einem ziemlich ratlosen Andy. Nach 15 Sekunden stand der Typ noch aufrecht, als wäre das üblich und normal.

Eine Nummer zu groß

Auweia.

Was die Frage beantwortete. Da entstand natürlich ein leichter Überdruck. Aber wer rechnete denn mit sowas? Und dabei hatte der Andere noch nicht einmal Streit gesucht, mein Freund Andy hatte die  Sache ins Rollen gebracht. Ok, diese Aktion war eine Nummer zu groß. Aber was nun? Wie soll man da sein Ego wieder in die Vertikale heben, wenn es derart den Bach hinunter geht? Sicher, Andy hätte sich wehren können, indem er das Gleiche gemacht hätte. Aber das ging nun wirklich nicht. Mein Kumpel schätzte die Situation korrekt ein und blieb stehen. Unten hat der Typ abgeschwungen, stand drei Sekunden, und verschwand dann hinter einer Kuppe.

Wir einigten uns, dass sie halt so seien, die Buckelpistenfahrer. Jeder muss selbst zurecht kommen. Wenn man irgendwas nicht recht einordnen kann, erhält man eben eine Brille hingereicht. Jetzt sei er schlauer, nun kenne er die Tatsachen.

Das kapierte Andy und bestellte uns gleich noch zwei Gläser Rauschelimo. „Was soll’s“, sagte er, der Moment sei für ihn letztlich ganz amüsant gewesen. Seit damals habe für ihn der Spruch „Schuss oder A….loch“ eine neue Bedeutung bekommen. Ich kann mir vorstellen, dass er ihn nie wieder derart naiv benutzt hat. Danach habe er Abstand gehalten und nicht mehr versucht, den Unbekannten anzuhauen.

Ich konnte es mir nicht verkneifen die Frage vom Anfang nochmals zu wiederholen und fragte ihn noch:
„War diese Schussfahrt jetzt kontrolliert, oder unkontrolliert?“