Der korsische Indianer

Silvretta Nova im Frühjahr 1992

Wir befinden uns in den frühen Neunzigern. Seit dem ersten Teil der Geschichte sind etwa 10 Winter vergangen. Manche davon hatten guten und einige sogar sehr guten Schneefall gebracht. In diesen Zeiten gab es in jeder dritten Nacht Winterstürme mit voluminösen Ausgüssen, so dass alle Wintersportler Gelegenheit hatten, sich auf den Pisten blicken zu lassen und am Thema entlang zu üben.

Nun war es soweit, nun wollte ich mich positionieren – die Arena will schließlich vom Nachwuchs übernommen werden. Meine Kunst hatte zwar nicht das Niveau der Vorgabe erreicht – aber mein Plan, obwohl ein wenig perfide, schien einigermaßen sicher zu sein: Ich schätzte ab, dass ich mit dem Vorteil der Jugend die Alten auf die Plätze weisen können würde. Der eine oder andere Hund von früher sollte in eine peinliche Situation gebracht werden. Sie sollten sich aus der Warte ihres fortgeschrittenen Alters heraus fuchsen.
Also ging  ich wieder ins altbekannte Skigebiet, zur Silvretta Nova. Sollte keiner der Bekannten erscheinen, würde ich wenigstens auf eine junge Buckelpistenszene treffen. Wie es der Zufall wollte, begleitete mich bei meinen Erkundungen eine Studentin, namens Netti, die ich noch nicht lange kannte. Zufälle gab es …

Wir kamen am Donnerstag an. Oben tat sich gar nichts, der Hang war sozusagen verwaist – nichts mehr da von der Aufregung früherer Tage. Dort, wo mal irgendwelche Deppen mit abwegigen  Ansätzen die Piste beackert hatten, war  nichts mehr zu sehen. Die Buckel sahen zwar gut aus und der Schnee war in Ordnung – aber niemand benutzte ihn. Was soll’s,  sagten wir uns, und fuhren zwei Tage lang über die Buckel, mit dem, was dazugehörte: Heli, Rückenkratzer, Anhocktechnik. Ihr wisst ja Bescheid.

Auch am Samstag tat sich nichts. Keiner schob sich durch Gelände und Nachwuchs war auch nicht zu sehen. Ich stellte fest, dass hier nichts mehr los war. Buckelpistenfahren war anscheinend voll aus der Mode gekommen. Vielleicht hatte sich die Szene einen anderen, mir unbekannten Ort für ihre Veranstaltung ausgesucht. Es konnte auch sein, dass die Kerle von damals – die ich meiner Begleiterin schon erwähnt hatte – Wohlstandsbäuche besaßen und sich mit wichtigeren Sachen als dem Buckelpistenfahren beschäftigten.

Zur Novagaststätte, die am Beginn dieser klassischen Buckelpiste platziert ist, möchte ich etwas sagen: Die Portionen dort waren riesig. Wer alles aufaß, was die Teller hergaben, brauchte nicht mehr an Körperertüchtigung zu denken. Ich philosophierte: Man muss im Leben eine Menge Zeug in sich hineinfressen, bis man ans Ziel gelangt. Wir haben dann die halbvollen Teller liegen lassen.
Wir saßen also um die Mittagszeit im gleichen Sessellift wie damals, hatten volle Bäuche,  schauten runter und stellten fest: Nichts zu sehen. Schade. Wir beide würden uns mit meinen Rückblenden begnügen müssen. Der gefrorene Morgenschnee begann langsam weich zu werden.

Auf einmal zuckte ich in meinem Metallsessel, denn ich sah etwas: Da war einer! Einer von denen. „Schau mal“ – meine Finger zeigten in die richtige Richtung. Ich war stolz auf mein Gedächtnis. Wer kann sich schon an Gesichtszüge von Leuten erinnern, die er 10 Jahre nicht gesehen hat und die jetzt durchaus etwas anders aussahen. Obwohl, der Typ sah eigentlich immer noch unverändert aus.

Um ihn ein wenig zu beschreiben: Wir gaben ihm etwa 40 Jahre. Sein Körper steckte in einem Overall. Zu sehen waren 5 Jahre alte Salomon-Schuhe, ein Modell mit besonders hohem Schaft. Die Ski waren neu und teuer – die Exklusivität, die mich schon immer ins Grübeln gebracht hatte. Sein Gesicht könnt ihr euch, falls ihr ein wenig Allgemeinbildung besitzt, als das des Korsen „Osolemirnix“, aus dem Comic  „Asterix auf Korsika“ vorstellen. Die Ähnlichkeit mit dem gezeichneten Korsen war nicht ungefähr, sondern groß. Hier seht ihr ein Abbild dieser Visage.

osolemirnix

Die Spur war also aufgenommen. Wir sahen, wie er im oberen, etwas flacheren Bereich der Piste vorging. Er hoppelte über die Buckel, ohne wesentliche Richtungsänderungen vorzunehmen – ausgefahrene Schwünge waren anscheinend nicht sein Thema.  Wir stellten fest, dass er nicht darauf angewiesen war, die Geschwindigkeit niedrig zu halten.

Der Sessellift spuckte uns aus und wir gingen auf die Piste, um ihm zu begegnen. Ich hatte eine alte Ikone gefunden. Ich würde mich dem Kräftemessen stellen und an vergangene Zeiten zurückdenken. Bei der Abfahrt blieben wir dann an einer Stelle stehen, wo er sicher vorbeikommen sollte. Da kam er auch schon „herangerutscht“.

Wieso ich „herangerutscht“ schreibe,  in Hochkommas hervorhebe und betone? Nun, ich wusste, was es heißt  zu rutschen – und kannte alle diesbezüglichen Vorbehalte. Das Abenteuer konnte ich in dieser Ausführlichkeit nur erleben, weil ich mich zuvor mit dem Thema klassische Skitechnik befasst hatte.

Der Korse fuhr einen gerutschten Innenskischwung, auf dem Stückchen planer Fläche, welcher den Eingang in den Buckelhang bildete. Deutsche Skiinstruktoren meinten stets, dass Schwünge geschnitten zu fahren sind, und dass das Körpergewicht ausschließlich durch den Talski auf den Boden zu drücken habe. Ich hatte diese Verfahrensweise mittlerweile mehr oder minder akzeptiert. Der Korse machte das genaue Gegenteil. Dem brauchte man nichts mehr hinzuzufügen. Eine ungute Sorge schlich sich mir ein – sollte diese Methode in der Buckelpiste eine Anwendung finden?

Wir Urlauber standen neben ihm und ich sagte sehr betont: „nicht schlecht… habe Sie schon vor 10 Jahren gesehen…  beeindruckend, nicht?“ – keine Antwort. Der 40-Jährige hatte mich gehört und eindeutig für eines Gespräches unwürdig befunden – und beeilte sich noch nicht einmal, diese unangenehme Lage zu beenden. Er stand lange da. Meine Bekannte zuckte mit  ihren Schultern und ich zuckte auch.

Als es los ging, hätte ich die Vorstellung fast verpasst. Kein Wort und weg war er: Ich schob mich umständlich ein paar Meter nach vorne, um ihn zu sehen. Er glitt die Buckelpiste nicht in Richtung Falllinie hinunter, sondern durchkreuzte sie quer, von links nach rechts von der linken Seite zur rechten Seite. Wie soll ich’s beschreiben? Auf jede Buckelflanke, auf die er traf, rammte er die Außenkanten seiner Außenski (wohlgemerkt die Außenkante) mit Wucht hinein. Er vollführte eine ungewöhnlich starke Vor-Seit-Bewegung des Oberkörpers. Der Kopf nickte, phasengleich mit dem Stockeinsatz, nach unten und dabei flogen seine Haare in Fahrtrichtung. Die Knie und Unterschenkel kippten bei jeder Buckelannahme auffällig weit nach innen. Zwischen den Buckeln verzichtete er, wie schon die 10 Jahre zuvor, auf jeglichen Bodenkontakt. Er schoss vorwärts und konnte seinen Körper scheinbar wie einen mobilen Magneten bewegen, um ihn für einen Sekundenbruchteil auf  „Buckel-Anziehen“ zu stellen und dann wieder auf  „Flugphase“ zu schalten. Diese  menschliche Granate trieb eine Schneise ins Gelände. Kurz vor dem Wald auf der rechten Seite der Piste befand sich ein Hügel.

Er nahm die Flanke des Hügels als Schanze, um einen Helikopter zu springen. Wir sahen keinen Baby-Helikopter, wo man die Umdrehung gerade mal so hinbekommt und vielleicht ein paar Zentimeter hoch fliegt. Wir sahen einen Satz, bei dem der Springer gemütlich das Rundum-Panorama betrachten kann. Es schien, als wollte er die Phase, wo er rückwärts in der Luft schwebte, besonders auskosten.

Nachdem die Rotoren einmal durchgedreht hatten, fing er sich, landete und ging sofort in die Hocke. Ohne Verzug  wechselte er die Fahrtrichtung. In den letzten Buckeln zeigte er einen Peitschenschlagschwung, wobei er entschieden dafür sorgte, dass seine langen Haare zur Seite flogen.

Und wir?

Erst mal nichts. Unsere Beine waren blutleer. Die Augen protestierten gegen das Unwirkliche. Wir standen da, angefasst von einer Art Mischung aus ehrlicher Bewunderung und selbstbezogenem Zweifel. Wir rekapitulierten, was wir gerade gesehen hatten:  Er hatte den Raum durchkreuzt, als wäre er ein Insekt gewesen. Wir Umstehenden wollten mit einer großen Klatsche auf dieses Insekt draufschlagen und sagen: Unsinn, so fährt man doch nicht das Gelände entlang, und nochmals: Unsinn. Aber er entschlängelte sich unserer Klatsche mit großer Geschwindigkeit. Diese Fahrt war eine Massenkarambolage gewesen, eine Zerstörung der bestehenden Meinungen zum Thema Skifahren mit anschließendem Schockzustand. Das war es denn wohl. Es gibt Sachen, die lernt man einfach nicht.

Dann sagte einer: „Leute, ich sterbe gleich.“

Er hatte mir vor seiner Fahrt nicht geantwortet und das war der schönste Steilpass, den wir uns nur wünschen konnten. Dieses Schweigen ergoss über meine Begleiterin und mich die interessantesten Gefühle. Über eine Antwort hätten wir Minuten nachgedacht, sein Schweigen produzierte Phantastisches. Der Typ sagte mit seiner Fahrt alles – was sollte er noch mündlich hinzufügen?

Meine Begleiterin nannte ihn den Indianer, weil sie die französischen Bildheftchen nicht kannte. Später war zu hören, dass man ihn als den „ersten Heli“ bezeichnete, während es auch einen „zweiten“ gab. Nun, immerhin hatte ich Aufmerksamkeit erzeugt.

Der Korse machte die Buckelpiste für zwei Stunden zur Schnelltrasse. Während wir eine Fahrt machten, erledigte er drei. Er blies uns um die Ohren wie ein Wirbel, der von allen Seiten kommt. Dann war er weg.

Und als wäre es ein Anpfiff gewesen, tauchten andere Protagonisten auf: Wir sahen einen Hund, der seine Haare zu einem langen Pferdeschwanz gebunden hatte und ohne Aufregung mit besonders weichen Bewegungen hinab fuhr. Wie ihm das gelang, konnte ich lange nicht analysieren. Ein anderer, in schlichter Kleidung, war eine tragische Gestalt. Er schwang extrem fix, aber diese Schläge, denen er sein Kreuz aussetzte – allgemein wurde über seine Bandscheibenprobleme gesprochen. Wenn ein Buckelpistenfahrer nicht aufpasst, muss er etwas Brauchbares hergeben, nämlich seine körperliche Gesundheit. Das Schicksal eines Rückgrads mit kaputten Weichteilen ist mehr als schlimm, sagte ich mir damals. Ein armer Kerl. Man muss nicht nur lernen intensiv zu fahren, man muss auch Methoden finden, die nicht am Kapital zehren.

Ein weiterer trug blaue St.-Giorgio- Skischuhe mit brutal ausgedrehter Vorlageschraube am Schaft – diese Dinger waren selten. So konnten wir feststellen, dass es möglich ist, die Vorlage des Stiefels zu erhöhen. Wir badeten in jeder Menge Anschauungsmaterial. Der Angelpunkt war aber eindeutig der Indianer gewesen.

Ich traf ihn nie wieder. Der Urlaub, der wie eine Art Leinwaldfilm verlief, endete am Sonntag. Wenn meine Bekannte und ich einander nur das Wort „Indianer“ bemerkten, war das eine sichere Methode, dass wir uns vor lachen wegwarfen. Wir leierten diesen Vorgang hundertfach durch bis es uns dann doch anfing zu nerven.

Ich möchte abschließend eine Kulturfrage aufwerfen: Gibt es irgendwo gute Buckelpistenfahrer, die bereitwillig kommunizieren? Leute, die nicht so ausgereifte Darbietungen auftischen können wie er selbst, mag der zungenfaule Korse nicht leiden. Mit Sportlern auf Augenhöhe oder darüber hinausgehenden Fähigkeiten – und die wird es im Laufe der Zeit geben – teilt er sich schätzungsweise auch nicht gerne sein Revier.

Ich bin 2003, nach einer Dekade, noch mal zur Silvretta-Nova gefahren Ich war überzeugt davon, dass der indianische Korse auch damals keine Probleme mit dem Jungvolk haben wird. Sobald der Typ mal die Altersgrenze von 80 Jahren passiert, wird er sich auch irgendwas einfallen lassen. Da bin ich mir sicher.


Und das war alles?

Tatsächlich. Mehr ist in diesem Urlaub nicht passiert, als dass ein Blitz vor uns einschlug, und wir hin- und herwackelten. Es folgte ein Kampf um unser inneres Selbstwertgefühl. Diesen Kampf konnten wir nicht mal ansatzweise abschließen und haben dann unser restliches Hab und Gut – also was davon noch übrig war – wieder eingesammelt.