Die Steigerungen der Ausgleichstechnik
Es gibt zu vielen Dingen eine Steigerung und zu dieser Steigerung manchmal noch weitere Steigerungen. So auch in der Buckelpiste.
Wir fahren in der Buckelpiste die sogenannte Ausgleichstechnik. Unebenheiten gleichen wir aus, indem wir in die Knie gehen. Wenn wir die Knie passiv beugen, dann nennen wir den Vorgang „klassische Ausgleichstechnik“.
Schön und gut. Ab einer gewissen Geschwindigkeit – einer Marke, die gar nicht mal so weit hinten in den Lehrbüchern zu finden ist – können wir mit diesem passivem Ausgleich den Kontakt zum Boden nicht mehr halten. Nun ist es schlecht, wenn wir Kontakt verlieren, denn Kontaktverlust bringt Schläge mit sich. Schläge, die vermieden werden sollten – es sei denn, Ihr habt kein Interesse an eurer Zukunft.
Obwohl: Da existiert eine Technik, die man ungefähr so beschreiben kann: Man springt von Buckelspitze zu Buckelspitze und kümmert sich einen Dreck um den Rest. Gar nicht mal so übel, diese Vorgehensweise, aber ich habe keine Erfahrung damit. Ich begnüge mich, wie gesagt, mit durch gehaltenem Bodenkontakt, da ich meine, dass dies dann doch vernünftiger ist, vorzuziehen aus Gründen der Nachhaltigkeit.
Wenn wir eine bestimmte Geschwindigkeit überschreiten, müssen wir nicht nur passiv, sondern auch aktiv die Beine anhocken, bevor wir sie wieder von uns strecken. Diese Variante wird „Anhocktechnik“ genannt und ich habe in dem Zusammenhang auch die Bezeichnung „Kompressionstechnik“ gehört. Beide Knie werden aktiv angehockt oder komprimiert. Wenn wir diesen Vorgang einigermaßen gut beherrschen, dann sieht es aus, als seien unsere Knie aus Gummi hergestellt. So eine Präsentation kommt bei den Zuschauern und Zuschauerinnen ganz passabel an. Wir können den Ausführenden den Namen „Gummihund“ geben.
Wenn wir die Beine aktiv anziehen, hat das einen weiteren Vorteil: Die Oberschenkelmuskel und die Muskel am Gesäß können sich für den Bruchteil einer Sekunde entspannen. Versorgungsblut fließt nach und die Muskeln erholen sich – wir realisieren längere Fahrten, ohne müde zu werden.
Vielleicht denkt manch einer jetzt: Oha, gut geschlussfolgert, interessante Perspektive – das ist es, diese eben erwähnten Gummiknie seien das maximal Erreichbare und die Grenze des Machbaren: So ging es mir jedenfalls, bis ich merkte, dass es noch weiter geht. Die soeben beschriebene Vorgehensweise lässt sich nämlich noch entwickeln – ich konnte einen entsprechenden Fahrer mit eigenen Augen sehen. Keine Sorge: Ich beherrsche das nicht, was ich nun ausformulieren möchte. Ich werde es auch nicht mehr lernen – keine Chance, aber möglicherweise kann ich es beschreiben und vielleicht kann einer von Euch etwas damit anfangen. Das wäre doch was.
Das Reich der Freiheit
Die Bewegungsabfolge, von der wir sprachen, die von den Gummiknien, lernen und üben wir. Zuerst versuchen wir es auf einfachen und nicht allzu abschüssigen Hängen. (Hier eine Information gegen Ehrgeiz an der falschen Stelle: Wenn die Buckel vereist sind, wie zu Ostern in den Morgenstunden, dann fährt man nicht in Buckelpisten rein sondern macht Pause und chillt ein wenig.)
Sobald wir diese Dinge gemacht haben, fahren wir in ordentliche Hänge hinein. Wir üben es lieber 10 mal langsam und vorsichtig, als einmal zu schnell. Wenn nichts dazwischen kommt, beherrschen wir die Anhocktechnik nach einigen Jahren auf zufrieden stellende Weise. Die Stabilität unter Stress wächst, was wir auch außerhalb der Buckelpisten präsentieren können. Wer sich in den Buckeln behaupten kann, für den gibt es auch auf gewalzter Piste nur wenige Situationen, in denen es ihn aus den Halterungen wirft. Wir steigern dann unser Tempo soweit, dass uns eigentlich alle Übungen, die der menschliche Körper auf Skiern machen kann, zugänglich sind.
Wobei wir sagen müssen, dass es den Buckelpistenfahrern mit dem Druck auf den Außenski ein bisschen hapert. ( Der Text stammt aus dem Jahr 2000. Heute haben sich die Vorgaben der offiziellen Lehrplände doch ein wenig bewegt.) Aber egal, beim Buckelpistenfahren handelt es sich ja um sogenannten freien Stil, in englischer Sprache: „Freestyle“. Wobei es eine offene, desorientierte Freiheit nur solange gibt, bis uns jemand eine Sache zeigt, die wir unbedingt nachvollziehen wollen. Dann lichtet sich der Nebel unserer Ahnung, was Buckelpistenfahren eigentlich sein kann. Wir staunen anfangs und denken später darüber nach, ob wir auch sowas hinbekommen könnten.
Die Gummihunde des vergangenen Jahrhunderts hatten Glück und sie hatten Pech in einer Sache: Sie verfügten zunächst über den Vorteil der frühen Tage, ihren Sport noch „Freestyle“ zu nennen, wo es tausend Dinge zu entdecken galt und man noch frei von jeglicher Vorgabe – wie z.B. einer zwingenden Außenskibelastung – herumexperimentieren konnte. Sie hatten andererseits das Problem, dass sie die gegenwärtigen Möglichkeiten noch nicht alle kannten.
Ein junger Hund entwickelt die Anhocktechnik weiter: Wenn er sie über längere Zeit ausprobiert und anwendet, bekommt er ein Feingefühl für den Untergrund und baut die Angst gegenüber brenzligen Situationen ab. Er hat nun die Kraft und die Erfahrung, seine Skier permanent auf dem Boden zu halten.
Irgendwann macht es ihm vielleicht auch nichts mehr aus – aus einer Laune heraus – in gerader Linie den Hang herunter zu fahren, einfach so. Wenn das funktioniert, dann ist es nicht schwierig, auch bei niedrigeren Geschwindigkeiten immer den gleichen Fersendruck auf den Boden abzugeben. Wenn Du jedes Gelände im Schuss bewältigst, kannst Du alles. Du wechselst aus dem freinen Fall ins Schwingen und dann wieder zur Beschleunigung. Du befindest dich in einem Reich der Freiheit. Alle Fahrtricks funktionieren – jederzeit. Deine Ideenkraft ist nicht mehr durch etwaige Mängel in Deiner Kondition eingeschränkt und auch die Angst vor dem Sturz hast Du irgendwie aus Deinem Kopf entfernen können.
Ein wesentlicher Vorteil des Eindringens in diese Freiheit ist, dass Du nun den Aufwand reduzierst und ökonomischer zu schwingen vermagst. Du kannst nicht nur beliebige Kombinationsfolgen fahren, sondern verkleinerst auch die grundlegende Kraftanstrengung – wobei du selten, aber immer wieder, zur Sicherung Gewalt benötigst, wenn mal brenzlige Situationen kommen, bei denen es an die Ressourcen zu gehen gilt , um dann sofort wieder frei zu sein. Die Buckelpistenfahrer schaffen es, im Reich der Freiheit ohne besondere Anstrengung zu fahren, benötigen aber nach wie vor Reservekräfte.
Langfristige Entwicklung
Was passiert, wenn ein Buckelpistenfahrer über längere Zeit diesen gehobenen Unsinn durchführen kann? Nun, er schafft es wie gesagt, die Körperlast während des gesamten Schwungs so zu verteilen, dass der Druck konstant bleibt. Es sieht für einen Betrachter nicht mehr aus, als würden Knie aus Gummi die Unebenheiten ausgleichen, nein, die Ski kleben sozusagen autonom auf dem Boden. Die Beine scheinen wie eine Nähmaschinennadel die Bodenbeschaffenheit abzulesen – wie eine Nähmaschinennadel ohne Eigenmasse.
Dem soeben gefundenen Phänomen möchte ich einen Namen geben: Ich möchte das präzise Halten der Ski auf dem Boden Klebetechnik nennen. Die Klebetechnik ist die Konsequenz einer ausgereiften Anhocktechnik.
Diese Klebetechnik habe ich vor einiger Zeit sehen können, und sie ist eine Fahrweise, die sich wahrscheinlich kaum verbessern lässt – bis irgendwann einmal einer auf die Idee kommt, uns noch etwas hundsmäßigeres vorzuführen.
Weitere Entwicklung
Ein Gummihund senkt seinen Aufwand und kann spielerische Manöver ausführen, die nicht unbedingt zur Verteidigung gegen die ankommenden Buckel notwendig sind. Er beginnt zu tanzen.
Die Buckel verlieren einen Teil Ihrer Gefährlichkeit. Statt einem harten Terrain voller unangenehmer Kanten und Untiefen, erinnert sich der Fahrer daran, dass der Schnee weich ist. Er streichelt mit seinen Gleitflächen liebevoll und sanft – aber mit fixen Reflexen – über den befahrenen Grund. Die grundsätzliche Feindschaft gegen das Gelände entspannt sich, sie wird zu einer Partnerschaft. Die Oberschenkelmuskeln wechseln elastisch zwischen Anspannung und loszurren. Virtuose Zuckungen kehren den persönlichen Charakter des Sportlers nach außen und das sieht bei jedem Fahrer anders aus und bildet in der Gruppe eine abwechslungsreiche Mixtur. Das spielerische Element tritt gegenüber dem sportlichen in den Vordergrund – natürlich nur, solange keine Wettkämpfe anstehen. In Konkurrenzsituationen klotzen die Aktiven brav, was das Zeug hält.
Der Athlet (oder die Athletin) backt die Oberschenkelmuskel seltener zu einem festen, unelastischen Klumpen, er kann große Anteile seiner Muskelmasse locker und unbenutzt belassen, er fordert vor allem seltener die äußeren Körpermuskel an. Die Arbeit erledigen innere Muskel, welche sich nahe am Rumpf, Zentimeter unter der Hautoberfläche befinden.
Eine besondere Macht-Demonstration ist das Aufperlen von gleichen Schwüngen, exakt gleichen – und zwar in natürlich gewachsenen Buckelpisten, die immer auch unregelmäßig sind. Wie zwei Scheibenwischer schieben die Ski links-rechts, links-rechts in konstanter Ausführung, wie ein Schweizer Uhrwerk, den kompletten Hang hinunter. Ein jeder Schwung entspricht dem vorhergehenden, unabhängig davon, was die Buckel unter den Füßen gerade machen. Dann fragt sich der Betrachter, warum ein solcher Hund seine Schwünge nicht dem Gelände anpasst. Der Verwunderung folgt dann die Feststellung, dass das Gelände den Akrobaten anscheinend nicht mehr einschränken kann. Ein Könner sucht nicht nach einer Passage, der Weg ist ihm einerlei und er kann die Richtungen frei wählen. Mit seiner regelmäßigen Fahrt amüsiert sich ein Aktiver über jene Lernenden, die an der Schwelle zur Anhocktechnik stehen. Einen Schwung immer so aussehen zu lassen wie den Vorhergehenden, scheint zunächst überflüssig, aber wer dies aus der Westentasche heraus kann, lacht damit über jene Jungs und Mädels, die es nicht einmal schaffen, unter regelmäßigen Bedingungen einen Lauf zu produzieren.
Es geht nicht nur darum, die Gesetze der Körpermechanik zu überwinden – sondern auch darum, aus einer beglückten Haltung heraus über die annullierten Schwierigkeiten zu lachen.
Das war das Buckelpistenfahren, wie man es im Jahr 2000 erleben konnte – wenn man zufälligerweise den richtigen Taktgeber vor Augen hatte.